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Verhaltene Sachlichkeit

Book Contribution - Chapter

Die vorliegende Analyse macht es sich zum Anliegen, die Protagonistin Doris aus Irmgard Keuns Zeitroman Das kunstseidene Mädchen (1932) sowie Robert Musils Mann ohne Eigenschaften als austauschbare Massensubjekte und als Gegenstände eines behavioristisch geprägten Experimentes unter Laborbedingungen zu untersuchen. Ob die beiden hier behandelten AutorInnen überhaupt zur Neuen Sachlichkeit gehören, ist seit langer Zeit kontrovers diskutiert worden. Im vorliegenden Beitrag galt das Augenmerk der Darstellung von Affekten. Diesbezüglich konnte festgestellt werden, dass ihre Darstellung sich stark am behavioristischen Reiz-Reaktion-Schema und am Massensubjekt orientiert. Folglich ist es nicht sinnvoll, diese Texte am Muster der psychologischen Introspektion zu messen. Konkret konnte am Beispiel von Das kunstseidene Mädchen und „Die Affeninsel“ nachgewiesen werden, dass auf Introspektion ausgerichtete Interpretationen die genannten Texte letztlich nur als defizitär einstufen können und für manche stilistische Eigentümlichkeiten blind bleiben. Liest man die Texte vor der Folie jener Diskurse, von denen sie ja inspiriert wurden, nämlich vom psychologischen Diskurs zum frühen Film (Walter Benjamin, Kracauer, Bela Balázs) und von der Zoologie der Zwischenkriegszeit, so stellen sie sich als am Massensubjekt orientierte Diskurse heraus, die in dieser Ausrichtung nicht nur Entmündigung oder Psychopathologie erblicken, sondern durchaus auch Empowerment verorten. Auf diese Weise treffen sich beide Autoren „mit einer Konsequenz aus den behavioristischen Verhaltenstheorien, deren Bestimmung des Individuums als der abhängigen Variablen äußerer Handlungssituationen und Reize für das Selbstverständnis der neusachlichen Literatur maßgeblich wurde“ (Jäger 1995, 162). Dieses Subjektmodell, das lange als Sozialtechnologie verschrien war und nach der Zeit der Kybernetik und des Kalten Krieges quasi ad acta gelegt wurde, findet heutzutage eine Entsprechung in jenen Schwarmintelligenzen, die den öffentlichen Raum nachhaltig transformieren, und zwar dies aufgrund einer neuerlichen positiven Bezugnahme auf die behavioristische Psychologie. Es soll künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben, näher zu bestimmen, wie der hier skizzierte neusachliche Zugriff auf Affektsteuerung mit digitalen Mitteln sichtbar gemacht werden kann. Die Vermutung liegt nahe, dass Heuristiken, die dazu gedacht sind, sich von der Distanz aus und auf exoterische Weise an das Verhalten von unsichtbaren Subjekten heranzutasten, auch imstande sein dürften, diese Logik auch als sprachliches Muster sichtbar zu machen. Moritz Baßler moniert, dass die Neue Sachlichkeit auf einen wenig innovativen Realismus hinausläuft, wenn die stilistische Besonderheit der Neuen Sachlichkeit eben in einer lückenlosen Verkettung der koreferenziellen Verweise bestehe (cf. Baßler, in diesem Band). Damit benennt er aber zugleich die die Digital Humanities wie Computernarratologie umtreibende Frage nach der coreference resolution, die sich in manchen (journalistisch und referentiell geprägten) Texten als leichter herausstellt als in anderen. Wenn die codierte Sprache Irmgard Keuns auf neue Geschwindigkeiten getrimmt ist und bei Musil nicht nur Sätze wie Befehle ineinandergreifen, sondern auch das Subjekt in Zuständen permanenter Überforderung (wie zum Beispiel der Massenpanik) imaginiert wird, dann reicht allerdings dieser eine Parameter zur Identifikation nicht aus. Denkbar ist aber auch, dass es zur Visualisierung von Sachlichkeit in fiktionalen Texten auch ganz anderer Parameter bedarf, z. B. der vormals erwähnten Funktionalisierung der Körpersprache. Auch fällt die behavioristische Externalisierung stärker ins Auge, wenn inhaltlich eine gemeinhin mit Interiorität und Individualpsychologie assoziierte Realität externalisierend beschrieben wird. Inhaltliche und formale Parameter sollten sich also ergänzen, denn schließlich hat zwar „richtige Bildung mit Kommas gar nichts zu tun“ (Keun 2005a, 9); dafür aber könnte die nüchterne Quantifizierung von Nebenordnung, Deiktika, Aposiopesen von Affekten, Adjektiven usw. noch mehr über die Neue Sachlichkeit als Verhaltensforschung preisgeben.
Book: Neue Sachlichkeit im Kontrast : Deutschland und die Niederlande
Series: Spectrum Literaturwissenschaft
Pages: 43 - 64
ISBN:9783110682052
Publication year:2020
Accessibility:Open